Fanny Lye Deliver’d

FANNY LYE DELIVER’D (2019) ist in mancherlei Hinsicht eine Überraschung. Zum einen wartet der Film mit einer interessanten und verstörenden Mischung aus Folklore des 17. Jahrhunderts, Thriller und Horror auf. Zum anderen tut sich der noch recht junge Regisseur Thomas Clay (*1979) als vielseitiges Talent hervor. Clay hat nicht nur das Drehbuch geschrieben und Regie geführt, sondern auch die Filmmusik komponiert. All diese Aspekte und auch das Schauspiel von Maxine Peake als Fanny Lye haben viel Kritikerlob erhalten.

Der Film spielt im Jahr 1657 auf einer abgelegenen Farm in Shropshire, eine Grafschaft in den West Midlands in England. Auf dieser Farm lebt Fanny Lye ein Leben puritanischer Strenge – einfach und rau. Ihre Ehe, der ein Sohn entsprungen ist, ist ihr zur Last geworden. Eines Tages erscheint ein junges Paar auf der Farm. Sie werden von einem rücksichtslosen Sheriff verfolgt und bitten um Hilfe. Fanny Lye bietet Hand, doch was folgt soll ihr Leben dramatisch verändern.

In Bezug auf die Filmmusik ist besonders zum Schmunzeln, wenn Regisseur und Komponist Thomas Clay in YouTube-Videos wiederholt lapidar sagt, dass dies so gar nicht gedacht gewesen sei. Während er sich auf die Suche nach einem Komponisten gemacht habe, habe er sich überlegt, was er für eine Musik haben wollte. Er wollte eine Filmmusik mit Leitmotiven, die heutige filmmusikalische Ansätze mit Instrumenten und Klängen aus der damaligen Zeit verbindet. Dabei seien seine Gedanken und Vorstellungen so konkret geworden, dass er die Musik sogleich selbst habe niederschreiben müssen. Letzten Endes stellte er seine Suche nach einem Komponisten ein und schrieb die Filmmusik während eines Zeitraums von einem Jahr eingenhändig. Er habe vor rund 20 Jahren ab und an Musik komponiert, diese Tätigkeit aber später nicht weiter vertieft. Bis jetzt, denn für FANNY LYE DELIVER’D schrieb er nicht nur für ein Orchester, sondern auch Chor, Gesangsolisten und zahlreiche mittelalterliche Instrumente. Für die Aufnahmen konnte er über 100 Musikerinnen und Musiker in den Air Studios in London begrüssen, darunter viele Spezialisten für mittelalterliche Instrumente und für Gesang aus jener Epoche (bspw. das britische Vokalensemble I Fagiolini, das auf alte und zeitgenössische Musik spezialisiert ist und im Jahr 2006 den Royal Philharmonic Society Award für «Ensemble of the Year» entgegennehmen durfte).

Wenn man sich nun auch noch vor Augen führt, dass gestandene Filmmusik-Grössen wie James Horner oder auch Bear McCreary wiederholt betonten bzw. betonen, wie schwierig es sei, mittelalterliche Instrumente in westliche Orchesterklänge zu integrieren, wird die Arbeit von Thomas Clay für FANNY LYE noch beeindruckender.

Handkehrum klingen einige Passagen von Clays Filmmusik bekannt – wobei ich keine konkreten Bezüge nennen kann. Aber man kommt nicht umhin zu vermuten, dass Clay aus ihm bekannten Werken aus der Klassik als auch aus der Filmmusik immer wieder Ableitungen auf FANNY LYE DELIVER’D vornahm – bewusst oder unbewusst. Eine Adaption von Beethovens «Ode an die Freude»-Melodie im letzten Stück «March to Joy» ist explizit ausgewiesen. Hier erklingt die «Ode» im Stil der marschähnlichen Sukzessionskriege-Schlachtfeldmusik, kombiniert mit keltischen Klängen und Morricone-ähnlichem, rhythmischem Chorgesang – eine irre Kombination, die aber irgendwie funktioniert und die man so schnell nicht vergisst. Aus dem filmmusikalischen Lager wähnt man sich stellenweise in einer Morricone-, Horner- oder Barry-Arbeit. Nichtsdestotrotz wartet fast jedes einzelne Stück mit packenden Ideen und Klangfarben auf. Stücke wie «Fight!» und das epische Stück «The Plea» präsentieren viele Dissonanzen in Streichern und Chor. «Medlars» und «Second Morning» warten mit noblem Blechspiel auf – hier werden gar Erinnerungen an Goldsmiths Pomp für FIRST KNIGHT (1995) wach. Und in «Fanny’s Choice» steigern sich die Streicher mit den Trommeln ins Heldengetöse. Diese Entwicklung von den anfänglich einfachen, folkloristischen Klängen auf verschiedenen Flöten hin zu den ordentlich deftigen Orchesterpassagen in der zweiten Albumhälfte ist kurzweilige anzuhören. Das Ergebnis ist im mindesten sehr unterhaltsam und aus technischer Sicht nicht wirklich beeindruckend.

Basil 7.8.2020 

FANNY LYE DELIVER’D

Thomas Clay, Pull Back Camera

Pull Back Camera

53 Min.
16 Tracks