Le cinéma de Georges Delerue

Georges Delerue

Universal/Emarcy 531 263-0

CD 1: 73:40 Min./18 Tracks
CD 2: 73:33 Min./21 Tracks
CD 3: 74:08 Min./19 Tracks
CD 4: 75:31 Min./16 Tracks
CD 5: 60:38 Min./22 Tracks
CD 6: 72:04 Min./21 Tracks

6 CD Set

Bereits vor vier Jahren hatte das französische Universal-Label ein Maßstäbe setzendes 4 CD-Set im Long Box-Format mit Auszügen aus einer Vielzahl von Michel Legrand-Scores auf den Markt gebracht. Nun hat man noch eins draufgesetzt und im November 2008 im selben aufklappbaren Buchformat eine prachtvolle Deluxe-Box mit insgesamt 6 CDs veröffentlicht, die das Schaffen von Frankreichs wohl bekanntestem und populärstem filmmusikalischen Tonsetzer Georges Delerue in allen möglichen Facetten beleuchten.

Mehr als drei Jahre war das Team um Universal-Produzent Stéphane Lerouge mit Unterstützung von Delerues Witwe Colette in den Archiven französischer und amerikanischer Musikverlage und Plattenlabels auf Schatzsuche nach noch erhaltenen Masterbändern, die zum Teil im Lauf der Jahre gar Wasserschäden erlitten hatten und in einem «tape-oven» erst einmal erhitzt werden mußten, um sie überhaupt mittels Bandmaschine wieder abspielen zu können.

Aus einem riesigen Materialfundus von 14 Stunden mit Delerue-Musik wurde rund die Hälfte ausgewählt und auf dieser Box plaziert, so dass sich der Käufer mit einer Spielzeit von annähernd 7 Stunden konfrontiert sieht. Fast 100 Delerue-Arbeiten aus der Zeit von 1958 bis 1992 – darunter auch Kompositionen für Kurz- und Dokumentarfilme, Signet-Musiken für TV- und Radiosendungen oder für manche Filme zwar komponiertes, aber nicht verwendetes Material – werden hier mit jeweils 1-2 Tracks oder einer 5-10-minütigen Suite präsentiert. Ein Konzept, das bei einem Komponisten wie Delerue durchaus Sinn macht, da seine Stärken ja eh meist mehr in der melodischen Erfindungskraft lagen denn in der ausgeklügelten sinfonischen Verarbeitung seiner Themen. Insofern sind es doch in vielen Fällen 10-15 Minuten, die im Grunde die Essenz eines Delerue-Scores ausmachen, während rein atmosphärische Spannungssequenzen außerhalb der Filme oft etwas unnötig erscheinen.

Selbstverständlich können einige Exzerpte innerhalb dieser opulenten Anthologie nur Appetithäppchen für Delerue-Einsteiger darstellen und keinesfalls einen Ersatz für den komplett auf Tonträger erhältlichen Score – Beispiele hierfür wären etwa Our Mother’s House, A Walk with Love and Death, True Confessions, Crimes of the Heart oder La Revolution Francaise, um nur ein paar wenige zu nennen. Anderes funktioniert gerade in der Reduzierung ausgesprochen gut, so dass die entscheidende musikalische Substanz von Werken wie Interlude, The Horsemen, The Day of the Dolphin, Julia oder Dien Bien Phu in Form von zwei Tracks oder einer Suite in der Tat recht gut abgedeckt wird.

Eine vollkommen richtige Entscheidung von Lerouge war es, auf viele bekannte Scores wie etwa die für die Filme von Philippe De Broca und Francois Truffaut ganz zu verzichten, die bereits auf Universal-Delerue-Samplern der letzten Jahre vorliegen. Dadurch wurde Platz geschaffen für Abgelegenes, Obskures und bislang nie Gehörtes, das die Vielseitigkeit und Experimentierfreude vor allem des jüngeren Delerue abseits seiner vielzitierten romantischen Streicherteppiche hörbar unter Beweis stellt. Gerade CD 5 mit bisher durchweg unveröffentlichten Arbeiten für Kurzfilme aus den 60ern und frühen 70er Jahren zeigt eine ansonsten eher wenig berücksichtige Seite des Komponisten auf, der sich hier in recht dissonanten kammermusikalischen Piecen seiner eher spröden, an Strawinsky, Honegger und Milhaud geschulten Konzertmusik annähert. Für ausgewiesene Delerue-Kenner, die bereits viele der alten LPs und EPs ihr eigen nennen, ein ganz besonderes Schmankerl, was sich in ähnlichem Ausmaß auch für CD 6 sagen läßt, die allein den TV-Arbeiten des Komponisten gewidmet ist und dabei zauberhaufte Kleinodien erstmalig ans Tageslicht befördert.

CD 1 bis 4 sind dagegen sinnvollerweise nach Jahrzehnten gegliedert, wobei nacheinander 60er, 70er, 80er und frühe 90er Jahre zum Zug kommen. Zusätzlich auf CD 4 befinden sich auch noch nicht verwendete Musikteile, vor allem etwa eine ca- 10-minütige Suite des «rejected scores» zu Something Wicked This Way Comes – im übrigen hier in der Originalaufnahme zu hören und nicht in der späteren bei Varese auf CD veröffentlichten London Sessions-Fassung (was ebenso für Scores wie Rich and Famous, The Escape Artist, Biloxi Blues und andere aus der US-Spätphase gilt).

Dass Delerue auch bluesigen Jazz-Klängen nicht abgeneigt war, dürfte ebenfalls den Einen oder Anderen überraschen und ist gerade bei einigen französischen Filmen aus den frühen 60ern auf CD 1 deutlich auszumachen.

Die komplette Box jedenfalls lädt ein zu einer faszinierenden Reise durch vier Jahrzehnte Delerue-Filmmusik und ist üppig bestückt mit charmanten und warmherzigen Themen, die die unverkennbare Handschrift des Meisters tragen und tief zu berühen vermögen. Geradezu traumhaft und berückend etwa die erlesenen Tracks Le retour du père aus Premier Voyage von 1979 oder das von Joan Baez gesungene The Crimes of Cain aus To Kill a Priest von 1988, um nur mal zwei von Dutzenden von Beispielen zu nennen.

Bis auf wenige Ausnahmen wie bei den leider sehr dumpf geratenen beiden Interlude-Tracks ist die Klangqualität im allgemeinen als sehr zufriedenstellend zu bezeichnen. Sicherlich gibt es leichte Schwankungen bei den älteren Aufnahmen, die zum Großteil natürlich noch in Mono abgemischt wurden, aber erstaunlich klar und transparent erklingen gerade die Kurzfilmmusiken, bei denen man es am wenigsten vermutet hätte.

Abgerundet wird das 44-seitige, reich bebilderte Booklet durch Interviews mit bekannten Regisseuren und Komponisten, die mit Delerue über kürzere oder längere Zeit zusammengearbeitet haben – unter Anderem kommen dabei Bernardo Bertolucci, Agnès Varda, Norman Jewison, Bruce Beresford, aber auch etwas unerwartet ein Howard Shore zu Wort.

Sicher kann man sich über die Auswahl der einzelnen Stücke (ein Negativbeispiel wäre etwa L’Autre Femme, bei dem das eigentlich schönste Stück der EP von 1963 außen vor gelassen wurde) und Scores streiten und ich persönlich hätte mir noch ein paar bislang rein gar nicht auf CD erhältliche Highlights à la Mira, Une Autre Vie, Les Coeurs de Bonheur Conjugal oder Sword of Gideon gewünscht, aber fraglos steht fest, dass es sich bei dieser wunderbaren Box um eine der großartigsten Veröffentlichungen des Jahres 2008 im Bereich der Filmmusik handelt.

Stefan, 25.2.2009

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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